Der Begriff Gerechtigkeit wurde und wird durch verschiedene Vorverständnisse in Geschichte und Gegenwart unterschiedlich interpretiert. Kultur und gesellschaftlich etablierte Wertvorstellungen beeinflussen die Bedeutung bzw. die inhaltliche Auslegung.
Der Begriff Gerechtigkeit wurde und wird durch verschiedene Vorverständnisse in Geschichte und Gegenwart unterschiedlich interpretiert. Kultur und gesellschaftlich etablierte Wertvorstellungen beeinflussen die Bedeutung bzw. die inhaltliche Auslegung.
In unserer Kultur wird heutzutage mit dem Begriff Gerechtigkeit in erster Linie Gleichheit und Ergebnisgerechtigkeit verstanden. Dieser Einstellung folgt auch unsere Gesetzgebung (z. B. bei der gesetzlichen Erbfolge (siehe auch: Erbfolge), bei dem jedem leiblichen Nachkommen im gleichen Verwandtschaftsgrad der gleiche Anteil zusteht (siehe auch: Pflichtteilsverzicht), oder bei der ehelichen → Zugewinngemeinschaft (siehe auch: Ehevertrag), bei der jedem Ehepartner genau die Hälfte des Zugewinns im Falle einer Scheidung zugesprochen wird).
Auch in unserer Kultur und mit unserem Vorverständnis gibt es also offensichtlich Situationen, in denen weder Gleichheit noch Ergebnisgerechtigkeit als gerecht empfunden werden. Es gelten dann offensichtlich andere allgemeingültige Wertvorstellungen. Solange dabei die Bezugsebenen eindeutig sind, weiß jeder, was er/sie als gerecht empfinden soll.
Verwirrend und konfliktträchtig wird es allerdings, wenn die Bezugspunkte nicht eindeutig sind bzw. möglicherweise mehrere solcher gleichzeitig existieren und nicht nur aufeinandertreffen, sondern sich sogar gegenseitig widersprechen.
Besonderer Hinweis für Unternehmerfamilien:
Mitglieder von Unternehmerfamilien müssen sich in der Regel gleichzeitig in unterschiedlichen Systemen bewegen, die unterschiedliche Bezugspunkte haben und sich an unterschiedlichen Vorverständnissen und Wertvorstellungen orientieren.
Das System Familienunternehmen besteht nämlich aus (mindestens) drei Subsystemen. Eine geschäftsführende Gesellschafter*in gehört allen dreien an: dem System Unternehmen, dem System Familie und auch dem System Eigentum.
Dreikreismodell nach Tagiuri/ Davis
Da die Subsysteme einerseits untrennbar miteinander verknüpft sind, andererseits aber in allen drei Systemen in unserer Kultur sehr unterschiedliche Wertvorstellungen gelten, entstehen Dilemmata, die oft große Irritationen bzw. innerpersonelle oder auch zwischenmenschliche Konflikte heraufbeschwören können.
Gerechtigkeitsdilemma:
In den drei Subsystemen gelten unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit.
In der Familie herrscht die Vorstellung, dass Gleichheit gerecht ist. Denn alle Eltern werden ihren Kindern gleich viele Bonbons zuteilen (möglichst auch noch in der gleichen Geschmacksrichtung), um Streit zu vermeiden.
Im Unternehmen wird allerdings bei uns als gerecht anerkannt, dass die Unternehmensmanager*innen, die viel leisten und viel Verantwortung tragen, ein wesentlich höheres Monatsgehalt erhalten als die Teilzeitputzkraft.
Im System Eigentum gilt es hingegen als gerecht, wenn alle gesellschafts-, steuerrechtlichen und gesetzlichen, also alle Vorgaben juristisch korrekt umgesetzt werden.
Wie sollen also Unternehmer*innen handeln, wenn sie beim Erbgang die Nachkommen gerecht behandeln will?
Sollen sie sich strikt an die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben halten und die dort traditionell verankerte Vererbung an den ältesten Sohn realisieren? Oder sollen sie dem Wunsch der Ehepartner*innen nachkommen, die gerne alle Kinder in der Unternehmensführung sehen würden und die Firma zu gleichen Teilen vererben möchten? Oder sollen sie als Unternehmer*innenb handeln und der tüchtigen, leistungsfähigen zweiten Tochter die Firma übertragen?
Dieses Dilemma lässt sich nicht auflösen. Egal wie sie entscheiden, sie werden in einem System richtig, aber im anderen System falsch handeln. Das Ergebnis wird auf jeden Fall Irritationen hervorrufen.
Diese können nur abgeschwächt werden, indem allen Beteiligten erstens klar kommuniziert wird, nach welchen Regeln man handelt, und zweitens, dass es nicht unbedingt eine Ergebnisgerechtigkeit geben muss, dafür aber eine Verfahrensgerechtigkeit. Wie beim Fußballspiel kann dann ein 4:1 durchaus als ein gerechtes und faires Resultat anerkannt werden, da es weder durch List, Betrug, Heimlichkeit oder Parteilichkeit zustande kam, sondern die von allen anerkannten Regeln nach bestem Wissen und Gewissen befolgt wurden.
Weiterführende Literatur:
Höffe, Otfried, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, Verlag: C. H. Beck, München 42010, ISBN 978-3-406447686
Tagiuri, Renato/ Davis, John A., Bivalent attributes of the family firm. Working Paper, Harvard Business School, in: Family Business Review 9/2 1996 (Nachdruck von 1982), S. 199-208
Simon, Fritz B. (Hrsg.), Die Familie des Familienunternehmens. Ein System zwischen Gefühl und Geschäft, Verlag: Carl-Auer, Heidelberg ³2011, ISBN 978-3-896704740
Schlippe, Arist von/ Klein, Sabine, Familienunternehmen – blinder Fleck der Familientherapie?, in: Familiendynamik Jg. 35, 1/2010, S. 10-23